Anke May
Wer mit Anke May (64) spricht, hat das Glück, einer Zeitzeugin zu begegnen: Geboren im sächsischen Herrnhut, war sie 40 Jahre Diplom-Lehrerin für Deutsch und Englisch und davon etwa 10 Jahre in der DDR. Nach der Wende ging es von der Polytechnischen Oberschule Krippen in Bad Schandau zuerst an das Friedrich- Schiller-Gymnasium Pirna, dann ans Goethe-Gymnasium in Sebnitz, wo Anke May den Start von Jugend debattiert an der Schule umsetzte und begleitete. Ein Neubeginn auch im beruflichen Leben, denn nun waren freie Meinungsäußerung und Debatte an Schulen sogar erwünscht. Wie Anke May diese Zeit erlebte, was ihr Mann mit ihrer Stasi-Akte zu tun hat, und warum sie sich bis heute im Kuratorium von Jugend debattiert engagiert, erzählt sie in unserem Interview.
Erfahrungen als Lehrerin in der DDR
Wie sind Sie nach der Wende zu Jugend debattiert gekommen?
Das war ein richtig großer Zufall: Ich war im Jahr 1999 in Meißen bei einer Zusammenkunft mit Thilo von Trotha, dem ehemaligen Redenschreiber von Helmut Schmidt, und Dr. Matthias Rößler, dem heutigen Landtagspräsidenten von Sachsen, dabei. Es ging darum, im Rahmen eines Schulversuchs Debattierclubs an Schulen in Sachsen zu etablieren. Kurz zuvor hatte es in Sebnitz den „Fall Joseph“ gegeben, der weltweit für Aufsehen sorgte. Der sechsjährige Joseph, dessen Vater aus dem Irak stammt, war 1997 im Stadtbad ums Leben gekommen. Seine Eltern behaupteten anschließend, ihr Sohn sei von Neonazis ertränkt worden, und ganz Sebnitz würde dazu schweigen. Die Nation war plötzlich in Aufruhr, und Sebnitz stand als Nazi-Hochburg am Pranger. Am Ende der Ermittlungen kam heraus, dass der Junge aufgrund einer Herzmuskelerkrankung gestorben war, aber Sebnitz hatte seinen Stempel weg. Durch die Einbeziehung der Schule in Sebnitz in den Schulversuch wollte man wohl versuchen, etwas zu richten. Also habe ich einen Club gegründet, der lief aber nicht lange. Wir hatten ja alle keine Ahnung, wie so etwas funktioniert, uns fehlte das Handwerkszeug. Ich habe dann bei einer Dame im Dresdener Schulamt angerufen, die für das Debattieren in Sachsen zuständig war, und sie sagte nur: „Oh, schön, dass Sie anrufen. Ich bin gerade beauftragt worden, Schulen zu finden, die bei „Jugend debattiert“ mitmachen würden. Hätten Sie Interesse?“ So kam es, dass ich zu meiner ersten Jugend debattiert-Fortbildung nach Meißen gefahren bin.
Was hat Sie am Debattieren so fasziniert?
Ich glaube, das war der Fakt, dass eine freie Debatte in der DDR nicht möglich war, weder für Lehrkräfte noch für die Schülerinne+n und Schüler. Ich habe da wirklich böse Erlebnisse gehabt, wenn ich zum Beispiel bei schriftlichen Prüfungen guten Schülern eine schlechte Zensur geben musste, weil die politische Linie nicht stimmte. Unsere Arbeiten wurden ja immer nochmal nachkontrolliert, das war schon heftig. Selbst in so kleinen Schulen wie im Ort Krippen. Ich glaube, dass ich deshalb so einen riesigen Nachholbedarf hatte, was die Debatte angeht, und auch immer die Notwenigkeit gesehen habe zu debattieren.
Wie haben Sie diese Ungerechtigkeit in der Benotung der Schüler damals ausgehalten?
Nur schwer, aber ich muss auch sagen: Ich bin in der DDR groß geworden, und ich gebe ganz ehrlich zu, dass vieles an Erkenntnis erst nach und nach gekommen ist. Man muss ganz einfach erkennen - und das sehe ich auch für die Jugendlichen, die zwischen 1933 und 1945 gelebt haben – dass sich junge Menschen in dem Alter für vieles begeistern und nicht wie Erwachsene darüber nachdenken, was da eigentlich abläuft. Das ist mir als Lehrerin mehr und mehr bewusst geworden, vor allem, als ich dann selbst das erste Mal angeeckt bin.
Was war passiert?
Ich unterrichtete damals eine reine Jungenklasse und sollte eine bestimmte Anzahl von Berufsoffiziersanwärtern „liefern“, also Jungs, die für diese „Karriere“ geeignet wären. Diese Anzahl hatte ich aber nicht. Die Schüler waren gerade mal in der fünften oder sechsten Klasse, hatten ganz andere Vorstellungen vom Leben, als mit wehenden Fahnen zur Armee zu gehen. Viele kamen verzweifelt zu mir und fragten: „Muss ich da jetzt hin?“ Ich wollte die Jungs unterstützen und habe sie einfach nicht gemeldet. Da kam dann ein Herr vom Wehrkreiskommando und hat mich zur Rede gestellt. Ich sagte nur, dass ich ja auch nicht für andere Berufe wie zum Beispiel den des Arztes werben würde. Mein Schulleiter riet mir damals: „Mädel, halte Dich ein bisschen zurück mit dem, was Du sagst.“ So etwas habe ich öfter erlebt, es war schlimm. Mein Mann, der auch Lehrer ist, und ich waren kurz davor, unseren Beruf aufzugeben, aber zum Glück kam dann die Wende.
Hatten Sie jemals Angst vor Repressalien?
Das auf alle Fälle, aber da ich auf einem kleinen Dorf angefangen habe, war das nicht ganz so schlimm. Krippen ist ja auch dörflich, da ging es. Ich denke, in den Städten, wo dann wirklich Führungsoffiziere der Staatssicherheit aktiv waren, ist es unangenehmer gewesen.
Haben Sie nach der Wende Ihre Stasi-Akte beantragt?
Ja, aber da stand nichts Überraschendes drin. Das Einzige, was mich gewundert hat, war: Ich habe nach dem Studium mal eine Studentengruppe aus Budapest durch Dresden geführt. In meiner Akte stand dann, dass ich eine Jugendgruppe aus dem „nichtsozialistischen Ausland“ betreuen würde, wobei ja Ungarn eigentlich zum sozialistischen Lager gehörte. Und was ich sehr interessant fand… (lacht)… in der Akte war vermerkt, dass ich keine wechselnden Männerbekanntschaften hatte. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: „So, nun möchte ich von Dir so auch so einen Beleg haben.“ Es waren zum Teil schon lustige Sachen, die da in der Akte standen. Da habe ich im Blick auf Andere Glück gehabt.
Erfahrung bei Jugend debattiert
Der Wunsch, endlich frei debattieren zu können ist eines - warum können Sie sich nach wie vor für Jugend debattiert begeistern?
Vor allem sind es zwei Dinge: Was ich bei Jugend debattiert über die ganzen Jahre wirklich gut fand, ist, dass es in der Debatte auch um Sachkenntnis geht. Es wird nicht irgendetwas geredet, sondern das Thema muss Hand und Fuß haben. Das entspricht mir sehr. Weiterhin bin ich begeistert von der Entwicklung, die Jugend debattiert ständig nimmt. Es war zwar von Anfang an ein Projekt, das erfolgreich lief, und da hätte man leicht sagen können: „Jetzt lassen wir das so…“ Aber die Verantwortlichen haben es geschafft, immer wieder neue Punkte zu setzen, um zu verbessern, wo es ging. Auch wenn es manchmal nur Kleinigkeiten sind, aber das Programm wird immer weiter optimiert. Ich finde außerdem sehr gut, dass es bei Jugend debattiert nicht mehr wie zu Beginn nur um den Wettbewerb geht, sondern auch um Meinungsbildung an der Schule. Das ist heutzutage wichtiger denn je.
Wie haben Sie die Lehrkräfte aus Ost und West nach der Wende erlebt, gab es Unterschiede?
Das kann ich eigentlich nicht sagen. Ich finde, wer sich auf das Debattieren auf Grundlage von Jugend debattiert einlässt, der ist ohnehin sehr tolerant und vielem gegenüber aufgeschlossen. Das hängt allein schon damit zusammen, dass man sich auf Pro und Kontra vorbereiten muss, und somit wesentlich tiefer in die Thematik eindringt. Was allerdings interessant war, sind die ganz unterschiedlichen Bildungssysteme und Herangehensweisen der Lehrkräfte, die ich kennengelernt habe. Auch wenn es in der DDR politisch nicht gut lief, hatten wir auch unsere Stärken, vor allem in den Naturwissenschaften. Die Themen wurden im Unterricht einfach tiefgründiger und genauer behandelt. Genauso wie das Rechnen und Schreiben in der Grundschule, da waren wir in der DDR nach meinem Eindruck etwas weiter. Nur bei den Fremdsprachen konnten wir natürlich nicht mithalten, das ist klar.
Wie haben Sie Ihre eigene berufliche Entwicklung wahrgenommen? Sie kamen von der Polytechnischen Oberschule zum Goethe-Gymnasium, das dann mit Ihrer Hilfe zur Jugend debattiert-Projektschule wurde?
Ich glaube, ganz bewusst nimmt man so etwas nicht wahr. Ich hatte zwei Kinder zu der Zeit, und in der Schule kümmerte ich mich um meine Projektgruppe, da hat man genug um die Ohren. Ich weiß nur, dass ich unwahrscheinlich viele Menschen kennengelernt habe, was für unsere Schule im hintersten Zipfel Deutschlands gut war. Es gab plötzlich ein Netzwerk von Gleichgesinnten, die auch gern debattierten und sich austauschen wollten. Mir war einfach wichtig, das Ganze immer voranzubringen, und es war großartig zu erleben, dass wir so viele Schülerinnen und Schüler für Jugend debattiert begeistern konnten.
Wie haben Sie die Schülerinnen und Schüler erlebt, die vor der Wende nicht ihre Meinung sagen durften, und nun sind Debatte und freie Rede sogar Programm?
Das hat sich Schritt für Schritt etabliert, und es lag sicher auch an den Lehrkräften, mit wieviel Begeisterung diese neue Freiheit umgesetzt wurde. Es gab ja noch Lehrer, die nicht mit dem Wechsel klarkamen und ihrem alten Schema gefolgt sind. Die wurden natürlich nicht so gemocht. Aber wenn man als Schüler offen war, wurde das Debattieren immer mehr zu einer Möglichkeit, sich zu äußern, was dann später auch mit Freude getan wurde. Woran ich mich eher negativ erinnere, ist die Entwicklung zum Rechtsradikalismus in unserer Region. Sebnitz ist ja der äußerste Zipfel Sachsens an der tschechischen Grenze. Vor allem die Jugendlichen waren hier seitens der Politik sich selbst überlassen. Man hat zwar als Lehrerin oder Lehrer versucht, dagegen anzukommen, das ist uns aber leider nicht immer gelungen.
Konnte Jugend debattiert im Unterricht dabei helfen, über dieses Thema aufzuklären?
Ein bisschen schon. Vor allem profitierten die Jugendlichen, die immer ein bisschen dazwischenstanden und sich eher vernachlässigt fühlten in dem ganzen Geschehen. Sie haben durch Jugend debattiert erfahren, dass sie ihre Meinung sagen können und dürfen, aber natürlich auch Gegenwind bekommen können. Es macht schon etwas aus, wenn man vor der Klasse steht und zwei Minuten reden und eine Meinung vertreten muss. Vor allem, wenn man es sonst nur gewohnt ist, sich in einer Gruppe zu verstecken und von dort aus mitzuplappern.
Sie waren für Jugend debattiert auch in Mittel- und Osteuropa im Einsatz, vor allem in Prag. Wie haben Sie dort die Transformation in ein demokratisches Schulwesen im Vergleich zu Sachsen erlebt?
Das war nicht viel anders als hier. Das Wichtigste bei diesem Austausch war eher das Zusammenrücken der Jugendlichen dieser Länder. Es ging weniger um den Wettbewerb, sondern um das inhaltliche Debattieren und den kulturellen Austausch. Das haben wir dann auch mit unserem eigenen Schul-Projekt „Über Grenzen sprechen“ fortgeführt, das sich vor über zehn Jahren zwischen dem Goethe-Gymnasium und dem Goethe-Institut Prag entwickelt hat, und bis heute voller Begeisterung von den Schülern angenommen und gelebt wird. Mittlerweile sind dadurch enge Freundschaften entstanden.
Sie sind seit 2017 Mitglied im Kuratorium von Jugend debattiert, bisher als erste und einzige Lehrerin. Was bedeutet Ihnen diese Aufgabe?
Sehr viel. Und eigentlich wäre es meiner Meinung nach schon viel früher notwendig gewesen, jemanden von der Basis im Kuratorium zu haben. Das merke ich auch bei den anderen Mitgliedern, die gern die Meinung derjenigen hören, die an der Basis arbeiten.
Die Stiftung bekommt die Schülerinnen und Schüler ja erst zu sehen, wenn sie es bis zum Bundeswettbewerb geschafft haben. Da ist ein langer Weg dazwischen. Das Wichtigste ist es deshalb, eine Verbindung zu schaffen zwischen Schule und allen anderen, die einen maßgeblichen Anteil an dem Erfolg von Jugend debattiert darstellen. Obwohl ich seit vergangenem Jahr im Ruhestand bin, habe ich noch engen Kontakt zu meiner Kollegin, die am Goethe-Gymnasium den Jugend debattiert-Bereich von mir übernommen hat, so dass ich weiterhin auf dem Laufenden bin.
Was sollte sich bei Jugend debattiert ändern, was darf bleiben?
Ändern sollte sich nichts. Dadurch, dass ja ohnehin häufig Änderungen im Sinne von Verbesserungen stattfinden, ist weiterhin alles im Fluss. Mir gefällt auch gut, dass die Themen in den vergangenen Jahren wesentlich anspruchsvoller geworden sind. Ich wünsche Jugend debattiert auf jeden Fall, dass alles genauso erfolgreich weitergehen wird, denn ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass das Programm ganz viel Gutes bewirkt. Ich habe Schüler erlebt, die kaum in Erscheinung getreten waren, und sich nur schlecht zusammenhängend äußern konnten. Wenn diese Jugendlichen dann in der Jury saßen, haben sie durch die Rückmeldungen der anderen so viel an Erfahrungen und Tiefblick gewonnen, dass es überwältigend und berührend zugleich war. Diese Kinder sind regelrecht aufgeblüht. So etwas vergisst man nicht.
Sie sind ja nun im Ruhestand – wie verbringen Sie Ihre freie Zeit?
Ich bin für unser Debatten-Projekt „Über Grenzen sprechen“ im Einsatz, bereite weitere Treffen und Reisen nach Prag vor. Das macht mir sehr viel Freude.
… haben Sie auch Hobbys ohne das Thema Debatte?
(lacht) Ich lese gern Krimis, verbringe Zeit in unserem großen Garten oder gehe wandern. Außerdem haben wir drei Enkelkinder, die mein Mann und ich regelmäßig in Leipzig besuchen. Unsere beiden Söhne haben in ihrer Schulzeit übrigens auch bei Jugend debattiert mitgemacht, sie waren zwar nicht im Finale, aber es war eine tolle Erfahrung für sie. Die beiden haben mich immer unterstützt. In unserem Wohnzimmer sah es manchmal aus… Überall lagen die Pläne herum, weil wir so sehr im Thema steckten. Auch mein Mann hat eine Menge dazu beigetragen, dass alles funktionierte. Wir haben durch Jugend debattiert jedenfalls vieles erlebt, was wir sonst nicht erlebt hätte, allein schon die Reisen. Es war eine wunderbare Zeit.
Dann sind sie ja eine richtige Jugend debattiert-Familie!
Ja, das kann man gern so stehen lassen.
Das Interview führte Rena Beeg